Was bringt ein Mindestlohn in der Schweiz?
Was in vielen europäischen Ländern Usus ist, kennt die Schweiz so nicht: den flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn. Trotzdem kommt das Thema immer wieder auf den Tisch und wird sehr kontrovers diskutiert. Noch 2014 lehnten die Schweizer in einer Volksabstimmung einen landesweiten Mindestlohn, der durch eine Initiative der Gewerkschaften gefordert wurde, ab. Inzwischen scheint sich diese Haltung aber zu wandeln. Denn seit der Abstimmung haben immerhin 4 Kantone einen Mindestverdienst pro Stunde festgeschrieben. Vorreiter war 2017 der Kanton Neuenburg, gefolgt vom Jura, Tessin und Genf. In Basel gibt es derzeit einen entsprechenden Anlauf. Mindestlöhne sollen vor allem eines: die soziale Sicherheit erhöhen und damit Armut entgegenwirken. Dennoch kommt, vor allem aus Kreisen der Wirtschaft, Kritik. Kann ein Mindestlohn tatsächlich das garantieren, was die Befürworter sich erhoffen? Oder verschärft er bestehende Probleme sogar noch?
Wieviel Mindestlohn in der Schweiz muss sein?
Selbst wenn die Initiative von 2014 erfolglos blieb, hat sie in der Bevölkerung eine Hausnummer hinterlassen. 4.000 CHF im Monat bei Vollerwerb sollen es mindestens sein. Das spiegelt sich auch in einer Online-Umfrage aus dem Jahr 2019 von statista wider*. Von den dort befragten Schweizerinnen und Schweizern waren nur noch 30 Prozent gegen einen Mindestlohn. Während 9 Prozent keine Meinung zum Thema hatten, sprach sich die überwiegende Mehrheit dafür aus. Bei der Höhe gab es unterschiedliche Angaben, jedoch finden die meisten monatlich 4.000 CHF angemessen. Das entspricht ungefähr einem Stundenverdienst von 22 CHF, so wie von der Initiative seinerzeit angeregt.
Dem ersten Anschein nach eine Menge Geld. Überhaupt scheint das Lohnniveau in der Schweiz, vor allem mit Blick aus dem Ausland, ziemlich hoch zu sein. 22 Franken sind umgerechnet etwa 20 Euro. Zum Vergleich: Der Mindestlohn in Deutschland liegt derzeit bei gerade einmal 9,50 EUR. Aber auf der anderen Seite übersteigen die Lebenshaltungskosten in der Schweiz diejenigen in den Nachbarländern bei weitem. Und so gelten 4.000 CHF im Mittel als das, was ein Arbeitnehmender verdienen sollte, damit der Lebensunterhalt durch die Arbeit gesichert ist.
Welchen Zweck soll der Mindestlohn erfüllen?
Zwar beträgt der Medianlohn in der Schweiz etwa 6.500 CHF brutto. Das bedeutet jedoch, dass es Menschen gibt, die wesentlich mehr verbuchen können. Dem gegenüber stehen diejenigen, die viel weniger bekommen. Und manchmal reicht das Gehalt eben nicht, um alle Kosten zu stemmen. Arm trotz Arbeit – das trifft auf ungefähr 135.000 erwerbstätige Personen hierzulande zu. Ein gesetzlich garantierter Mindestlohn will diese Erwerbstätigenarmut verhindern. Zugleich soll er der Armutsgefährdung und Lohndumping vorbeugen sowie generell ein würdiges Leben möglich machen.
Wer gilt als arm in der Schweiz?
Miete, Essen, Kleidung, Krankenkasse, Mobilität, Kommunikation – all das will bezahlt werden. Wer als Einzelperson dafür weniger als 2.286 CHF im Geldbeutel hat, gilt als arm. Für eine vierköpfige Familie (2 Erwachsene, 2 Kinder unter 14 Jahren) liegt die Grenze bei 3.968 CHF. Die Grenzwerte schwanken jährlich in Abhängigkeit von Konjunktur und Kaufkraftentwicklung leicht. Die Working Poor bilden allerdings nur einen Teil der Armutsbetroffenen. Insgesamt sind etwa 660.000 Personen in der Schweiz arm.
Quelle: ↗ BfS – Armut 2018
Insbesondere Frauen würden von einem Mindestverdienst profitieren. Denn sie arbeiten häufig in Teilzeit und / oder im Tieflohnsektor, was den Gender Pay Gap zusätzlich befördert. Ausserdem kommen sie wegen Kindererziehungszeiten meist nicht auf die gleichen Erwerbsjahre wie Männer. Beides macht sich dann bei der späteren Rente bemerkbar. Bekämen sie nun wegen des Mindestlohns generell ein höheres Gehalt, stünden sie auch im Alter besser da. Nicht zuletzt steckt hinter dem ganzen die Erwartungshaltung, dass mehr Geld mehr Konsum bedeutet. Und das kurbelt ja bekanntlich die Wirtschaft an. Ganz bestimmt alles gute Gründe, die für einen Schweizer Mindestlohn sprechen. Aber weder der Bund noch die Kantone müssen diese Löhne bezahlen.
Gesetzlich verordnete Mindestlöhne versus Sozialpartnerschaft
Deshalb gibt es die andere Seite, die sich vehement gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht. Und auch sie hat gute Argumente zur Hand. Feste Lohnuntergrenzen existieren nämlich in der Schweiz durchaus. Nur sind sie nicht angeordnet, sondern das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden. Die hierbei entstandenen Gesamtarbeitsverträge regeln Arbeitsbedingungen und Mindestlöhne massgeschneidert für verschiedene Branchen. So auch der GAV Personalverleih, übrigens der grösste in der Schweiz, der gerade neu aufgelegt wurde.
Die GAV berücksichtigen dabei die Interessen beider Seiten sowie Branchenbesonderheiten und aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Durch einen staatlichen Eingriff in Form des gesetzlichen Mindestlohns sei einerseits diese jahrelang erarbeitete Sozialpartnerschaft in Gefahr. Andererseits würde der Schweizer Arbeitsmarkt durch mehr Regulierungswut genau das verlieren, was ihn ausmacht: die Flexibilität und Liberalität. Die Folge: Unternehmen wandern ab oder verlagern ihre Produktion ins Ausland. Insgesamt schadet das der Wirtschaft und schliesslich durch geringere Steuereinnahmen auch dem Bund.
Wie wirksam wäre ein Mindestlohn wirklich?
Hinzu kommt, dass ein Schweiz weiter Minimallohn aufgrund regionaler Unterschiede bei Wirtschaftskraft und Lebenshaltungskosten gar nicht so recht Sinn macht. Und er könnte sich auch woanders negativ bemerkbar machen. Unter anderem gerade bei kleinen Betrieben, die sich keine hohen Ausgaben leisten können. Ihnen bliebe dann nur, Stellen abzubauen, Arbeitszeiten zu verkürzen oder gar aufzugeben. Damit wäre ein staatlich verordnetes Mindestgehalt für die dort Beschäftigten wirkungslos verpufft. Nun soll der Mindestlohn ein Werkzeug sein, vor allem Erwerbsarmut einzudämmen. Dazu muss man sich die Working Poor einmal genauer anschauen:
Wer sind die Working Poor?
- Saisonkräfte, die nicht das ganze Jahr arbeiten
- Selbstständig Erwerbstätige
- Beschäftigte in Teilzeit
- Arbeitskräfte auf Abruf
- Angestellte in Kleinbetrieben
- Personen mit befristeten Verträgen
(nach Angaben des BfS s.o.)
Sie alle dürften von einem Mindestlohn nur bedingt etwas haben. Denn er sorgt weder für eine Festanstellung noch für eine Vollzeitstelle oder spült dem Kleinunternehmer mehr Geld in die Kasse. Selbstständigerwerbende gehen ganz leer aus bzw. sehen sich Extrakosten gegenüber, wenn sie zugleich Gehälter zahlen müssen. Und es gibt noch ein weiteres Problem. Wer generell ein geringeres Gehalt bezieht, ist meist ungelernt oder gering qualifiziert. Ein Mindestlohn kann an dieser Stelle einen Negativanreiz auslösen. Wenn nämlich das Gefühl entsteht, man könne auch so genug verdienen. Dadurch bleibt der Wille, sich fachlich zu entwickeln bei manch einem auf der Strecke. Das wiederum hat Folgen in der Zukunft. Denn auf dem Arbeitsmarkt sind vor allem gut ausgebildete Fachkräfte gefragt, während es für Hilfstätigkeiten immer weniger Raum geben wird. Im Endeffekt bedeutet das mehr Arbeitslose in diesem Bereich.
Fazit und Ausblick
Beim Thema Mindestlohn prallen zwei Welten aufeinander. Unternehmerische Interessen kollidieren mit denen der Arbeitnehmerschaft. Ein staatlich verordneter Minimallohn kann und wird den Arbeitsmarkt nicht zwingen, so zu funktionieren, dass alle zufrieden sind. Armut und Armutsgefährdung zu verhinden ist eine gute Sache. Von der eigenen Arbeit angemessen leben zu können, ein erstrebenswertes Ziel. Ein gesetzlicher Mindestlohn in der Schweiz ist dafür aber kein Garant. Denn von Armut und Armutgefährdung sind insbesondere Menschen ohne Arbeit, gering Qualifizierte, Alleinstehende mit Kindern und Ältere betroffen. Bildung und Qualifizierung, eine Besserstellung Alleinerziehender und mehr Chancen für die ältere Generation sind Punkte, die man bei aller Diskussion ums Geld nicht aus den Augen verlieren darf.
*Quelle: statista.com ↗ «Umfrage zur Einführung und Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns in der Schweiz 2019»