Fachkräftemangel Schweiz – echt oder Unsinn?
Veröffentlicht 16.11.2020 | Aktualisiert am 03.10.2021
Der Schweizer Arbeitsmarkt ist ständig in Bewegung. Tagtäglich findet man neue Jobangebote in den Printmedien, auf Online-Jobbörsen und bei den RAV. Was können uns diese Stellenanzeigen verraten? Zunächst einmal, wo es Vakanzen gibt und welche Branchen besonders auf der Suche sind. Mehr als 2.2 Millionen Job-Inserate wurden in den Monaten Januar bis August 2021 veröffentlicht – eine beachtliche Menge. Aber ist das schon der vielbeschworene Fachkräftemangel, auf den die Schweiz zusteuert, wie man immer wieder lesen kann? Was bedeutet Fachkräftemangel konkret? Gibt es ihn wirklich und wenn ja, wer ist besonders davon betroffen und welche Ursachen hat er?
Definition: Was bedeutet Fachkräftemangel?
Die Anforderungen an einen Job fallen ganz unterschiedlich aus. Einerseits existieren Tätigkeiten, die einfach gelagert sind und wenig spezifisches Wissen erfordern. Auf der anderen Seite stehen Berufe, für die man umfassende, handfeste Fachkenntnisse braucht. Um diese Berufe ausüben zu können, ist eine entsprechende Qualifikation Voraussetzung. Wenn Unternehmen Schwierigkeiten haben, für solche Vakanzen ausreichend qualifizierte Mitarbeitende zu finden, ist die Rede vom Fachkräftemangel. Woran lässt sich nun festmachen, ob ein solcher Mangel herrscht? Ein Blick auf die Situation am Stellenmarkt anhand der geschalteten Anzeigen liefert tatsächlich einige Indizien.
Welches sind die meistgesuchten Berufsgruppen?
Denn die Jobangebote sind nicht gleichmässig über alle Branchen verteilt. Wir haben, wie bereits im vergangenen Jahr, das Anzeigenschaltverhalten analysiert. Demnach gab es in der Schweiz zwischen Januar und August 2021 vor allem 5 Berufsgruppen, bei denen ein besonders hoher Bedarf an Mitarbeitenden bestand:
Top 5-Berufsgruppen: Anzahl ausgeschriebener Stellen in der Schweiz vom 01.01. – 31.08.2021
Quellen: 89 Online-Jobbörsen, 21 Print-Medien, RAV, ca. 25.000 Firmenwebsites
Vom 01.01.2021 – 31.08.2021 haben 76.972 verschiedene Unternehmen in der Schweiz 1.153.707 offene Positionen ausgeschrieben. Hierzu wurden mehr als 2.25 Mio Stellenanzeigen in den unterschiedlichsten Medien geschaltet. Das Anzeigeninvestment lag bei über 377 Mio CHF. Den höchsten Personalbedarf verzeichnen das Bauwesen, das Handwerk und der Bereich technische Berufe. Hier waren vor allem Ingenieure, Konstrukteure und Architekten gefragt.
Entwicklung im Vergleich zu 2020
Zwischen Januar und August 2020 betrug die Zahl der Vakanzen pandemiebedingt «nur» 967.928. Verglichen mit dem selben Zeitraum in 2021 lässt sich nunmehr ein Plus von 19.2 Prozent bei den offenen Jobs verzeichnen. Hier macht sich die Erholung des Stellenmarktes nach der Corona-Phase deutlich bemerkbar. Interessant ist aber vor allem eines: Bei den meistgesuchten Berufsgruppen gab es so gut wie keine Veränderungen.
Bauwesen, Handwerk und Technische Berufe führen auch 2021 das Ranking an. Angestiegen ist die Nachfrage nach IT-Fachkräften. Sie belegten vom 01.01. – 31.08.2021 mit 235.375 Anzeigen Platz 4 der gefragtesten Berufe. Demgegenüber ist der Bedarf im Gesundheitswesen leicht zurückgegangen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor an medizinischem Fachpersonal fehlt. Mehr als 100.000 offene Stellen und damit Platz 6 im Ranking sprechen eine Sprache für sich.
Fachkräftemangel ja oder nein?
Zwar kann man daraus nicht unmittelbar einen bestehenden Fachkräftemangel ableiten. Aber verschiedene andere Untersuchungen und Statistiken (u.a. ↗ C. Wunsch, M. Buchmann in «Die Volkswirtschaft», 2019) machen deutlich, dass viele Unternehmen Probleme bei der Stellenbesetzung haben. Betroffen sind vor allem Berufe, die eine mittlere bis hohe Qualifikation erfordern. Das bestätigt auch der Blick auf den aktuellen Stellenmarkt. Von sämtlichen zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.08.2021 ausgeschriebenen Positionen richteten sich 49.5 Prozent an Fachkräfte mit Berufsausbildung plus Erfahrung sowie an gewerbliche Fachkräfte. Akademiker und Führungskräfte waren mit 20.9 Prozent bzw. 17.7 Prozent ebenfalls stark gefragt. Stellenangebote für Hilfskräfte und Ungelernte gab es hingegen kaum. Sie kommen auf gerade einmal 0.3 Prozent am Anzeigengesamtaufkommen. Unternehmen suchen also insbesondere nach gut qualifiziertem Fachpersonal. Und sie können ihren Bedarf nicht ohne Weiteres decken.
Welche Ursachen hat der Fachkräftemangel?
Weshalb bereits jetzt Fachkräfte in der Schweiz fehlen und sich dieser Effekt in Zukunft noch verstärken wird, hat mehrere Ursachen. Ein wesentlicher Grund ist der demografische Wandel. Der Altersdurchschnitt der Schweizer Bevölkerung wächst stetig. Seit den sogenannten «Babyboomer-Jahren» sind die Geburtenraten gesunken. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen nun aber nach und nach in die Pensionierung. Das bedeutet, dass schon innert der nächsten Jahre mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als neu in den Beruf einsteigen.
Damit wird sich eine große Lücke auf dem Arbeitsmarkt auftun. Und das, obwohl in Zukunft einige Bereiche mit weniger Personal auskommen, weil Maschinen und künstliche Intelligenz mehr und mehr Aufgaben übernehmen können. Handumkehr jedoch entwickeln sich vollkommen neue Berufsfelder, die dringend auf hochqualifizierte Fachkräfte angewiesen sind. Der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft wird nicht schwinden, er verlagert sich nur.
Außerdem verliert die klassische Berufslehre, insbesondere im handwerklichen Bereich, an Attraktivität. Junge Leute entscheiden sich immer öfter für ein (Fach-) Hochschulstudium, weil sie sich als Akademiker bessere Chancen versprechen. Und es zieht sie wegen der besseren Infrastruktur in die grösseren Städte und Ballungszentren. Diese «Landflucht» wiederum bedingt eine Art geografischen Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass die Schweiz zwar ein Einwanderungsland ist, viele ausländische Berufsabschlüsse jedoch hierzulande nicht ohne weiteres anerkannt werden. Somit ist die Möglichkeit, Fachkräfte aus dem Ausland zu rekrutieren, um einem Mangel zu begegnen, eingeschränkt.
Wo wiegt der Fachkräftemangel besonders schwer?
Automatisierung und Digitalisierung haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Wandel in der Arbeitswelt geführt und verändern diese auch weiterhin. Es entstehen immer neue Technologien und damit neue Trendberufe. Ferner ist die Erwartungshaltung der jüngeren Generationen ans Berufsleben eine vollkomen andere als früher. Sie suchen sich ihren Arbeitsplatz dort, wo sie die für sich besten Voraussetzungen finden. Oftmals sind das die ganz grossen Konzerne, die mit mehr Gehalt, mit besseren Karrierechancen und vielen Benefits als «Place to be» locken.
Der Fachkräftemangel trifft damit gerade kleinere und mittlere Unternehmen besonders schwer. Wie sollen sie mit den Branchenriesen mithalten können, schon allein in finanzieller Hinsicht? Wenn es einen Mangel an ausreichend qualifizierten Bewerbern gibt, wächst der Wettbewerb um diese. Das hat nicht selten zur Folge, dass sich die Lohnspirale nach oben dreht. Darüber hinaus dauert es wesentlich länger, bis eine Stelle neu besetzt werden kann. Fehlen aber dringend benötigte Arbeitskräfte, hat das Auswirkungen auf Arbeitsabläufe und schliesslich auf die Umsätze.
Nicht zuletzt kostet auch das Recruiting selbst bares Geld und Zeit. Es muss vermehrt in Stellenanzeigen investiert werden, um auf die Vakanzen aufmerksam zu machen. Und es braucht personelle Ressourcen für die Bewerbersuche, was gerade in einem kleineren Betrieb zu Lasten der Kernaufgaben gehen kann. Ein weiteres Problem ist, dass solche Unternehmen oft wenig bekannt sind und sie die begehrten Fachkräfte deshalb erst gar nicht erreichen.
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Wie kann man dem Fachkräftemangel in der Schweiz begegnen?
Im europäischen Vergleich ist der Fachkräftemangel in der Schweiz noch nicht so gravierend, wie in einigen Nachbarländern. Trotzdem wird die Zukunft neue Herausforderungen mit sich bringen. Um diesen zu begegnen, müssen schon heute Weichen gestellt werden. Ein Schlüssel hierzu ist die strategische Personalplanung. Dazu können verschiedene Massnahmen gehören, wie etwa:
Gerade im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung wird die ältere Generation zu einer interessanten Zielgruppe. Es besteht nämlich durchaus die Option, Mitarbeitende auch nach der Pensionierung weiter zu beschäftigen und dadurch weiterhin von ihrem Fachwissen zu profitieren. Ein Generationenmix im Team schafft ebenfalls gute Voraussetzungen für einen Wissenstransfer. Die Älteren können ihre Erfahrungen weitergeben und die Jüngeren neue Techniken und Methoden vermitteln.
Fachkräfte ansprechen und ans Unternehmen binden
Um sich gegen die grossen Konkurrenten im War for Talents zu behaupten, müssen sich kleinere und mittlere Betriebe als attraktive Arbeitgeber positionieren. Nur so können sie geeignete Kandidaten ansprechen und langfristig im Unternehmen halten. Das Employer Branding – die eigene Arbeitgebermarke – spielt hier die entscheidende Rolle. Warum lohnt es sich, gerade in diesem Unternehmen zu arbeiten? Was bieten wir unseren Mitarbeitenden und was macht uns einzigartig bzw. hebt uns vom Wettbewerb ab? Diese Informationen müssen die potenziellen Kandidaten aber auch erreichen. Spezialisierte Jobbörsen, regionale Stellenmärkte, Messen, das Social Web, berufliche Netzwerke, die eigene Webseite und aussagekräftige Stellenanzeigen sind wichtige Medien, sich zu präsentieren.
Fazit: Der Fachkräftemangel wird nicht nur durch äussere Faktoren beeinflusst, manchmal ist er hausgemacht. Wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, wenn es keine vernünftige Personalplanung gibt oder wenn ein Unternehmen nicht weiss, wo geeignete Bewerber zu finden sind, verwundert es kaum, dass über kurz oder lang ein Mangel bei den Fachkräften droht. Doch genau das sind Punkte, die jedes Unternehmen selbst in der Hand hat.
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➥ Wie hat sich der Stellenmarkt in Deutschland 2021 entwickelt?
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